Real Madrid ist vom Selbstverständnis her der grösste Fussballklub der Welt. Da passen zwei zweite Plätze in der Meisterschaft und dem Cup hinter dem ewigen Rivalen aus Barcelona ebenso wenig ins Bild wie die Viertelfinalpleite gegen Arsenal in der Champions League. Lange wurden die Königlichen nicht mehr so vorgeführt wie bei den Niederlagen (0:3 in London, 1:2 in Madrid) gegen die Gunners. Eine solche Saison will beim Rekordsieger der Primera Division und der Königsklasse niemand noch einmal erleben.
Deshalb wurde Trainer Carlo Ancelotti im gegenseitigen Einverständnis aus dem Amt gehievt und durch Leverkusens Erfolgscoach Xabi Alonso ersetzt. Der hat nun die anspruchsvolle Aufgabe, eine weitere Saison ohne Titel zu verhindern. Oder wie der Chefredakteur der «Marca», Juan Ignacio Gallardo, sagt: «Das Ziel von Real Madrid ist es, die Hegemonie national und international wiederherzustellen.»
Eine wirkliche Vorbereitung hat der 43-jährige Baske dazu aber nicht. Wegen der Klub-WM, an welcher Alonso Real Madrid bereits als Trainer betreute, stieg das Team erst Anfang August wieder ins Training ein. Zwischen Trainingsstart und dem ersten Saisonspiel am Dienstagabend gegen Osasuna – dieses wurde auf Bitte von Real Madrid um wenige Tage verschoben, aber nicht so weit, wie sich der Klub eigentlich gewünscht hatte – liegen nur zwei Wochen.
Obwohl Alonso als Spieler in 236 Spielen für Real Madrid auf dem Platz stand und dabei Champions League, Meisterschaft und zweimal den Cup gewann, steht er von Beginn an unter Druck. Beim Amtsantritt bat er um Zeit und Geduld, «bis meine Mannschaft Xabi-Alonso-Fussball spielt». Bei dem erfolgsverwöhnten Klub ist das mit der Geduld aber immer so eine Sache. Eine lange Eingewöhnungszeit darf sich Alonso nicht erlauben, sein System muss schnell Früchte tragen.
Damit die Königlichen aus einer stabileren Defensive agieren können als letztes Jahr, als sie gemäss zugelassener «Expected Goals pro Spiel» nur auf Platz 19 der Champions League und Platz 4 der spanischen Liga standen, wurden drei Stars verpflichtet: Supertalent Dean Huijsen für 62,5 Millionen von Bournemouth für die Zentrale sowie die beiden Aussenverteidiger Trent Alexander-Arnold für 10 Millionen Euro von Liverpool und Ex-Real-Junior Alvaro Carreras für 50 Millionen von Benfica.
Ob Alonso in der Verteidigung auf eine Viererkette oder wie bei Leverkusen zumeist auf eine Dreierkette setzt, ist unklar. An der Klub-WM testete er beides. Durchgehend funktioniert hat das aber noch nicht. Gegen Dortmund fing sich Real Madrid in der Schlussphase noch zwei Tore und verspielte beinahe die 2:0-Führung, im Halbfinal unterlag es PSG gleich 0:4. Noch sucht das Team nach dem «Xabi-Alonso-Fussball» mit hohem Pressing und auch einmal schnellen Gegenangriffen.
Da ist Alonso auch auf Offensivstar Kylian Mbappé, dessen Defensiveffort oft zu wünschen übrig lässt, angewiesen. Der 26-jährige Franzose steht nach der letzten Saison ebenfalls unter Druck. Zwar wurde er mit 31 Toren Torschützenkönig der spanischen Liga, doch kam er nun mal zum amtierenden Champions-League-Sieger und Meister. Diejenigen, die befürchteten, dass Mbappé das Gleichgewicht im Team gefährden würde, sahen sich nach dem Verpassen jeglicher Titel – den bedeutungslosen UEFA-Supercup und die «alte» Klub-WM mal ausgenommen – bestätigt.
Und auch vor dieser Saison sorgt Mbappé wieder für Gesprächsstoff. So übernahm er die Nummer 10 des zur AC Milan gewechselten Altstars Luka Modric. Einige Fans finden, dass die legendäre Rückennummer dem Spielmacher gehören solle. Das ist Mbappé nicht. Um die Kritiker verstummen zu lassen, muss er zeigen, dass er sich in den Dienst der Mannschaft stellen und zum Erfolg beitragen kann.
Für Alonso könnte es eine Schwierigkeit werden, die verschiedenen Stars unter einen Hut zu bringen. Daran ist im letzten Jahr schliesslich selbst der bei Spielern legendär beliebte Ancelotti gescheitert. Und Alonso wurde nach seinem Weggang aus Leverkusen unter anderem von Jonas Hofmann und Patrik Schick wegen seiner Kommunikation bezüglich der geringen Einsatzzeiten kritisiert. Ein ähnliches Schicksal könnte nun Rodrygo ereilen. Der 24-jährige Brasilianer sass bereits an der Klub-WM fast nur noch auf der Bank und dürfte keine Rolle mehr spielen.
Dafür könnte das türkische Juwel Arda Güler mehr Auslauf erhalten. Der 20-Jährige kam zuletzt häufig auf Modrics Position im zentralen Mittelfeld zum Einsatz. Jude Bellingham wird weiterhin hinter den Spitzen Mbappé und Vinicius agieren. Im Sturmzentrum empfahl sich mit vier Toren an der Klub-WM auch Eigengewächs Gonzalo Garcia.
Wie in der Defensive könnte Real Madrid auch im Mittelfeld und gar im Sturm auf einige junge Spieler setzen. Die Zeiten des erfahrenen Mittelfeld-Trios Modric-Kroos-Casemiro sind nun endgültig vorbei. Da muss Alonso den richtigen Mix finden.
Beweisen müssen wird Alonso zudem, dass er grosse Spiele kann. Zwar gewann Leverkusen in der Meistersaison 3:0 gegen Bayern München, doch deutete der Trainerfuchs auch gewisse Guardiola-Züge an. Dem Coach von Manchester City wird nachgesagt, sich in den besonders wichtigen Spielen mit seinen Kniffen manchmal selbst ein Bein zu stellen.
Ähnliches musste sich auch Alonso vorwerfen lassen, als er beim 0:3 im Europa-League-Final gegen Atalanta Bergamo mit dem gelernten Aussenverteidiger Alejandro Grimaldo im Sturm begann und nur zwei echte Offensive in der Startformation stehen hatte. Ebenfalls ohne Stürmer und mit wenig Offensivpower liess er im Hinspiel des Champions-League-Achtelfinals gegen Bayern München spielen, das ebenfalls 0:3 verloren ging. Im Rückspiel unterlag Leverkusen dann 0:2. Bei Real Madrid täte er gut daran, solche Niederlagen gegen den grossen Rivalen zu verhindern. Zumal die Blancos in der Vorsaison in allen vier Duellen gegen den FC Barcelona als Verlierer vom Feld gingen. Der erste Clasico steht am 26. Oktober an.
Bei Barça ist nach der erfolgreichen Vorsaison vieles gleich geblieben. Der Meister verstärkte sich mit Goalie Joan Garcia – der Zoff mit der bisherigen Nummer 1 Marc-André ter Stegen ist inzwischen beigelegt – und Leihspieler Marcus Rashford von Manchester United. Am Kern um Lamine Yamal, Pedri und Gavi hat sich nichts verändert, auch weil Wunschspieler Nico Williams in Bilbao verlängert hat. Von dem Trio darf aufgrund des jungen Alters ebenso eine Weiterentwicklung erwartet werden wie vom 18-jährigen Innenverteidiger Pau Cubarsi.
Zwar sind Real Madrid und das Team von Hansi Flick erneut die klaren Favoriten, doch würde Atlético Madrid vier Jahre nach dem letzten Meistertitel auch gerne mal wieder ein Wörtchen mitreden. Dafür wurden auf dem Transfermarkt insgesamt 175 Millionen Euro investiert. Unter anderem kamen Assistkönig Alex Baena aus Villarreal und Abwehrkante David Hancko aus Rotterdam.
Dahinter gibt es einen grossen Kampf um den letzten Champions-League-Platz, in den auch Ricardo Rodriguez mit Betis Sevilla gerne eingreifen würde. An Athletic Bilbao vorbeizukommen, wird aber kein einfaches Unterfangen. Für den FC Sevilla mit den Schweizern Ruben Vargas und Djibril Sow wäre es nach dem nur knapp verhinderten Abstieg in der Vorsaison bereits ein Erfolg, sich langsam wieder im oberen Mittelfeld zu etablieren.
Aus Schweizer Sicht ist auch der FC Valencia interessant. Dort stehen mit dem von YB gekommenen Filip Ugrinic und Leih-Rückkehrer Eray Cömert ebenfalls zwei Schweizer unter Vertrag. Der Klub des umstrittenen singapurischen Investors Peter Lim befindet sich ebenfalls seit Jahren in der Krise und hat lediglich Aussenseiterchancen auf einen Europacup-Platz.
Der Auftakt in die neue Saison fand bereits am gestrigen Freitag statt, bis Dienstagabend stehen auch die restlichen 16 Teams im Einsatz.